Positionspapier: Es ist höchste Zeit, das Wochenbett als wichtige Phase des Geburtsprozesses gesellschaftlich anzuerkennen

Positionspapier: Es ist höchste Zeit, das Wochenbett als wichtige Phase des Geburtsprozesses gesellschaftlich anzuerkennen

Positionspapier des Runden Tischs „Lebensphase Eltern werden“ im Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e. V.

Der Zeitraum nach einer Geburt bis zur Rückbildung der schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen wird als Wochenbett bezeichnet, die gesetzliche Schutzfrist beträgt acht Wochen, nach Früh- oder Mehrlingsgeburt zwölf Wochen. Die Dauer dieser Auszeit ist nicht beliebig, denn sie dient sowohl der Rückbildung der schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen als auch dem Gelingen des für alle Beteiligten existenziellen Überganges in eine neue Lebenssituation. Heute wird dennoch dieser Lebensphase kaum Bedeutung beigemessen – auch der Begriff „Wochenbett“ verschwindet.
Im aktuellen Kontext angesiedelt wird eine Geburt heute eher als planbarer, wenn auch risikoreicher „Herstellungsvorgang Kind“ gesehen und entsprechend überwacht, denn als natürlicher Prozess unterstützt. Die Schwangerschaft, ehedem Zeit der „guten Hoffnung“, ist tendenziell zu einem Hindernislauf der Ängste und Kontrollen geworden, in dem emotionale Bedürfnisse der Mutter1 leicht aus dem Blickfeld geraten und das Selbstvertrauen der Frau nur mühsam wachsen kann (Baumgärtner, 2011). Dies ist nicht nur im Hinblick auf die Geburt selbst problematisch, es blendet zudem die außergewöhnliche Bedeutung des Wochenbetts aus: als Teil des Geburtsprozesses und als unwiederholbare erste, prägende Zeit der Etablierung einer zuverlässigen, liebevollen Bindung zwischen dem Neugeborenen und zunächst seiner Mutter, und auch seinem Vater (Brisch, 2005; Mergeay, 2009).

Das Wochenbett – eine bedeutsame Phase der Bindungsentwicklung

Eine sichere Bindung zur Mutter bzw. zur nächsten Bezugsperson gilt als Voraussetzung für eine gelingenden Umgang mit Stress und Emotionen und wird als wesentlicher Schutzfaktor gegenüber späteren belastenden Erfahrungen und für soziale Kompetenz angesehen (Bowlby, 2014; Brisch et. al., 2002). Das Herzstück für den Aufbau einer sicheren Bindung ist eine sofortige und feinfühlige Reaktion der Eltern auf die Signale des Neugeborenen – und zwar von Beginn an und zu jeder Tageszeit. Das Wochenbett stellt einen geschützten Raum nicht nur für die Erholung von der Geburt sondern gerade auch für die „emotionale Geburt“ der Frau als Mutter, das gegenseitige Kennenlernen und für das Hineinwachsen der Eltern in ihre neue Lebenssituation dar.

Das Wochenbett – heute kaum wahrgenommen

Heutzutage scheint der Geburtsprozess gemäß dem medizinisch-technischen Verständnis der Geburt mit der „Entbindung“ abgeschlossen zu sein. Die Lebensphase Wochenbett wird meist nur noch als Zeit nach der Geburt beschrieben, deren Dauer beliebig erscheint. Die Errungenschaft der individuellen Handlungsfreiheit führt paradoxerweise dazu, dass meist allein die Anforderungen der Arbeitswelt die Gestaltung der Wochenbettzeit bestimmen. Diese ist heute allein der Frau und ihrem Partner überlassen: eine Aufgabe, die sich oft als mühsam und konfliktreich erweist. Der gesellschaftlichen Erwartung entsprechend ist die elterliche Zielsetzung eher auf die (Wieder-)Herstellung eines „normalen“ Alltags, nun „plus Kind“, denn auf die Erholung und das Einlassen auf die elementaren Bindungsbedürfnisse des Neugeborenen ausgerichtet. Die Wöchnerin, aber auch der Vater, stehen oft alleine da. Sie erfahren kaum Unterstützung bei dem Aufbau ihrer jeweiligen neuen familiären Identität und bleiben ohne Entlastung von den Aufgaben des weiterlaufenden und fordernden Alltags. Das verschärft sich in besonderer Weise durch die Rückkehr des Partners in den Berufsalltag, zumal diese meist lange vor dem Ende der Wochenbettzeit geschieht. Unter diesen Bedingungen können Wöchnerinnen leicht in eine Überforderung geraten. Dies wird jedoch selten von ihnen thematisiert und wenn, dann eher als Ergebnis einer eigenen Unzulänglichkeit gedeutet.

Gesundheitliche Folgen einer frühen Überforderung

Mütter beschreiben häufig, dass beim Aufbau der Stillbeziehung die Gefühle Achterbahn fahren und es Wochen dauert, bis sich Routine einstellt (Hinsliff-Smith et al., 2014). Stress und Überforderung können zum frühen Abstillen des Neugeborenen führen (Froehlich et al., 2015). Die meisten Wöchnerinnen in Deutschland beginnen zwar zu stillen, doch die von der Nationalen Stillkommission angeratene Stilldauer von 4 bis 6 Monaten ausschließlichen Stillens (BfR, 2015) wird heute nur selten erreicht (Rubin, 2013). So kommen die bekannten, vielfältigen gesundheitlichen Vorteile des Voll-Stillens nur wenigen Müttern und Kindern zugute. Außerdem können Ruhelosigkeit, Sorgen, Unsicherheit in der Beziehung zum Kind, Schlaflosigkeit oder familiäre Konflikte auftreten, die sich zu nachhaltigen Gesundheitsschäden bei Mutter und Kind entwickeln können. Angstzustände, tiefgreifende Erschöpfung, mangelnde Empathie für die Bedürfnisse des Kindes, Vernachlässigung der Selbstsorge bis hin zur Depression oder Gefährdung der Bindungsbeziehung können die Folge sein (Beetz et. al., 2013; Fahey & Shenassa, 2013; McMahon et. al., 2005).

Die Bedeutung des Wochenbetts: nun auch im Fokus von Politik und Gesundheitswesen

Als Teilziel von „Gesundheit rund um die Geburt“ wurden jüngst das Wochenbett und die frühe Phase der Elternschaft in die Liste der nationalen Gesundheitsziele aufgenommen. Damit wurde die Bedeutung des Wochenbetts erkannt – nun müssen konkrete Schritte folgen.
Der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e. V. fordert zum Handeln auf: So vielfältig und unterschiedlich die Persönlichkeit und Lebensumstände der Wöchnerin heute sind, jede benötigt einen Rahmen des Schutzes, der Schonung und Unterstützung für sich und ihr Kind in den ersten Wochen nach der Geburt. Dies stärkt die Zufriedenheit, das (Selbst-)Vertrauen und die Gesundheit von Mutter, Kind und Vater und ist Voraussetzung für den Aufbau einer stabilen Bindung, die als fundamentales menschliches Bedürfnis Voraussetzung für die Entwicklung von Persönlichkeit und Autonomie ist.

Forderungen an Politik und Gesellschaft

Folgende Maßnahmen können dazu beitragen, die gesellschaftliche Beachtung und Wertschätzung des Wochenbetts zu erhöhen:

  • Das Thema psychosoziale Bedeutung, Psychodynamik und Bindungsentwicklung im Wochenbett muss in die Ausbildung für alle an der Versorgung beteiligten Hebammen, ÄrztInnen, PsychologInnen, Haushaltshilfen durch die Träger der Ausbildungs- und Studiengänge aufgenommen werden.
  • Die auf Landes- und Bundesebene zuständigen Einrichtungen und Personen des Gesundheitswesens müssen die Bedeutung des Wochenbetts und die Unterstützungsleistungen durch Fachkräfte wie (Familien-)Hebammen, ÄrztInnen, Haushaltshilfen durch Informationen und Angebote der Fort- und Weiterbildung thematisieren. Dies betrifft vor allem Einrichtungen wie die Ärztekammern, Psychotherapeutenkammern, Geburtskliniken und Fachverbände.
  • Der Vorbereitung der Schwangeren, ihres Partners und des näheren Umfelds auf das Wochenbett muss in der Schwangerenbetreuung und in Geburtsvorbereitungskursen mehr Bedeutung beigemessen werden und zu einem frühen Zeitpunkt in der Schwangerschaft stattfinden.
  • Der AKF unterstützt die Forderung der Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Manuela Schwesig, nach einer 14-tägigen Auszeit für Väter direkt nach der Geburt des Kindes.

Die Mitglieder des Runden Tischs: Dr. Edith Bauer (Gynäkologin), Juliane Beck (Juristin), Karin Bergdoll (Pädagogin, 2. Vorsitzende des AKF), Christiane Ernst (wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kompetenzzentrum Frauen und Gesundheit NRW), Gabriele Göttsching-Krusche (Gynäkologin), Ulrike Hauffe (Psychologin, Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau), Dr. Ann-Kathrin Hirschmüller (Rechtsanwältin), Ute Höfer (Hebamme), Katharina Jeschke (Hebamme, Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe, QUAG), Dr. Katharina Lüdemann (Chefärztin St. Josef Stift, Delmenhorst), Dr. Christine Loytved und Sabine Striebich (Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft), Colette Mergeay (Psychologin), Hanna Ojus (Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands, BfHD), Petra Otto (Pädagogin), Barbara Reuhl (Arbeitnehmerkammer Bremen), Susanne Steppat (Hebamme, Deutscher Hebammenverband, DHV)

1. Anm.: Die Bezeichnung Mutter und Vater bzw. Eltern im Text geschieht nur aus Gründen der Lesbarkeit und schließt gleichgeschlechtliche Paare oder alternative Familienformen ein.

Literatur:

Baumgärtner, B. S., K. (2011). Einfach schwanger? Wie erleben Frauen die Risikoorientierung in der ärztlichen Schwangerenvorsorge. Frankfurt: Mabuse.
Beetz, A., Gaass, K., Beckmann, M. & Goecke, T. (2013). Der Einfluss mütterlicher Bindung und postnataler Depressivität auf Entwicklungsauffälligkeiten des Kindes bis zum 18. Lebensmonat. Empirische Sonderpädagogik, 4, 300–314.
BfR, B. f. R. (2015). Nationale Stillkommission: Weiterhin 4 bis 6 Monate ausschließlich stillen: Stellungnahme der Nationalen Stillkommission zur Änderung der S3-Leitlinie zur Allergieprävention [Press release].
Bowlby, J (2014). Bindung als sichere Basis – Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. Verlag Reinhard Ernst: München.
Brisch, K. (2005). Bindungsstörungen als frühe Marker für emotionale Störungen. In W. von Suchodeletz (Hrsg.), Früherkennung von Entwicklungsstörungen (pp. 23–43). Göttingen: Hogrefe.
Fahey, J. O. & Shenassa, E. (2013). Understanding and meeting the needs of women in the postpartum period: the Perinatal Maternal Health Promotion Model. J Midwifery Womens Health, 58(6), 613–621. doi:10.1111/jmwh.12139.
Froehlich, J., Donovan, A., Ravlin, E., Fortier, A., North, J. & Bloch, M. (2015). Daily routines of breastfeeding mothers. Work, 50, 433–442. doi:10.3233/WOR-141954.
Hinsliff-Smith, K., Spencer, R. & Walsh, D. (2014). Realities, difficulties, and outcomes for mothers choosing to breastfeed: primigravid mothers experiences in the early postpartum period (6–8 weeks). Midwifery, 30(1), e14-19. doi:10.1016/j.midw.2013.10.001.
McMahon, C., Barnett, B., Kowalenko, N. & Tennant, C. (2005). Psychological factors associated with persistent postnatal depression: past and current relationships, defence styles and the mediating role of insecure attachment style. J Affect Disord, 84(1), 15–24. doi:10.1016/j.jad.2004.05.005.
Mergeay, C. (2009). Respekt und Zeit für das Wochenbett. Deutsche Hebammenzeitschrift, 8, 6–8.
Rubin, D. (2013). Stillen in Deutschland [Press release].

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